Olympischer Schatz auf einer Sammlerbörse

Von Rüdiger Fritz

In Deutschland angefeindet und mit einer Wettkampfsperre bedroht, in Griechenland jedoch bejubelt und sogar von dessen König bewundert – für die deutsche Turnriege geriet der  erfolgreiche Auftritt bei den ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen auch zu einem Wechselbad der Gefühle. Für die Männer um den Riegenführer Fritz Hofmann war bei dem Fest am Fuße der Akropolis aller Ärger vergessen, den ihnen zu Hause die Führung der Deutschen Turnerschaft (DT) bereitet hatte, weil sie sich deren Forderung widersetzten, auf die Teilnahme an der internationalen und aus Sicht der Turnerschaft ,,undeutschen“ Veranstaltung zu verzichten.

 

Deutsche Turner überragen 1896 in Athen

Das Team hatte in Athen allen Grund zu feiern und sich feiern zu lassen angesichts der Olympiasiege in den beiden Mannschafts-Wettbewerben am Barren und am Reck. Den Anfang machte der Berliner Carl Schuhmann mit dem ersten Platz im Pferdsprung am 9. April, dem vierten Olympiatag, womit er der erste deutsche Olympiasieger wurde. Danach gewannen Alfred Flatow am Barren und Hermann Weingärtner am Reck. Hinzu kamen drei zweite und zwei dritte Plätze. Außerdem ragten die vielseitigen Turner in weiteren Sportarten heraus: Schuhmann triumphierte im Ringkampf, wurde mit vier Siegen der erfolgreichste Teilnehmer der Spiele und schaffte es im Gewichtheben auf Rang drei. Fritz Hofmann belegte im 100-Meter-Lauf den zweiten und im Tauhangeln den dritten Platz.

Was sich in Athen ereignete, drang erst mit einiger Verzögerung nach Hause. Zeitungen berichteten im Abstand von Tagen und Wochen. Aktualität war noch ein Fremdwort. Die 1895 gegründete deutsche Zeitschrift ,,Sport im Bild“ veröffentlichte ausführliche Berichte mit Bildern des Berliner Olympia-Fotografen Albert Meyer am 15. Mai 1896. Da waren die Spiele schon einen Monat vorüber. Als schnellste Möglichkeit, Neuigkeiten von dem Olympia-Geschehen übermitteln, erwies sich der Postweg.

 

Kartengruß von Gustav Felix Flatow an seinen Bruder

Diese Variante wählte das Mitglied der siegreichen Turnriege Gustav Felix Flatow mit einer Postkarte nach Berlin an seinen Bruder Leo, das drittälteste der zwölf Flatow-Kinder. Sie traf gemäß Ankunftsstempel bereits drei Tage nach Beendigung der Olympischen Spiele am 18. April ein. Der Empfänger wird als Zahnkünstler benannt, worunter ein Zahntechniker zu verstehen ist. Auf den ersten Blick lässt sich mit der Karte wenig anfangen. Der Text scheint aus einer Aneinanderreihung von Hieroglyphen zu bestehen. Weit gefehlt: Gustav Felix Flatow hatte bemerkenswertes zu berichten vom Bankett, das der griechische König Georg I. für die ausländischen Olympiateilnehmer, Offizielle und die Auslandspresse gab. Der Text lautet:

Athen, den 13. April 1896

Meine Lieben!

Wie ich Euch schon mitgetheilt habe, wurden wir alle Turner beim König zum Diner eingeladen und haben mehr als 3 Stunden dort gespeist in 5 Gängen, es war großartig; nach dem wurden wir alle dem König vorgestellt und hat sich dieser sehr über uns gefreut und sich mit jedem unterhalten; auch der Kronprinz und sämtliche Prinzen waren erschienen etc., etc. Um 2 ist Preisverteilung, und am 16. fahren wir ab und denke ich am 20. bis 22. dort einzutreffen. An Leo habe ich einen Brief geschrieben und wird er es hoffentlich berücksichtigen; Karl soll, wenn er gefragt wird, sagen, er hat eine Karte geschrieben, dass er am 20. oder 21. wieder eintrifft.

Viele, viele Grüße,                                                                                                                               Euer Felix

Außer ihm unterschrieben weitere sieben Olympiasieger aus der elfköpfigen Mannschaft: Conrad Böcker, Georg Hillmar, Fritz Hofmann, Fritz Manteuffel, Richard Röstel, Gustav Schuft und – bestens sichtbar – Carl Schuhmann. Des Weiteren gehörten Alfred Flatow, Karl Neukirch und Hermann Weingärtner zum Team.

So schön die Postkarte anzuschauen ist, die Entschlüsselung des Textes bereitete ungeahnte Mühe und beanspruchte Monate.  Nachfragen bei einem Stenografie-Verein und an Universitäten erbrachten keinen Erfolg. Schließlich gelang das mit Hilfe des Stenografischen Dienstes des Deutschen Bundestages. Ein Schriftexperte fand heraus, dass der Text in der selten gebrauchten alten deutschen Kurzschrift Alt-Stoltze verfasst wurde. Kein Wunder, dass es so lange dauerte, das Geschriebene zu verstehen, waren doch 800 bis 900 deutsche Kurzschriftsysteme im Umlauf.

 

Postkarte, die der Turner Gustav Felix Flatow an seinen Bruder Leo nach Berlin schickte. Auf der Rückseite die Unterschriften von acht Olympiasiegern der deutschen Turnmannschaft 1896 in Athen.
Sammlung Rüdiger Fritz

Fast ein Jahrhundert unentdeckt

Das ist aber nur ein Teil der spannenden Geschichte dieser Karte. Scharen von Olympia-Historikern und Sportwissenschaftlern haben über Jahrzehnte hinweg die Geschichte der Olympischen Spiele bis ins kleinste Detail erforscht. Doch immer wieder werden neue Mosaiksteinchen zu Tage gefördert, auch dank privater Funde. Die Postkarte blieb fast ein Jahrhundert unentdeckt. Im Jahr 1993 stieß auf der jährlich veranstalteten Börse des Vereins der Kieler Briefmarkensammler der bekannte Olympia-Philatelist Karl Rathjen aus Schleswig auf das Stück – ein Sensationsfund, wie sich herausstellen sollte. Ein älterer Sammler hatte in einem seiner ausliegenden Alben auf eine Postkarte verwiesen, die mit griechischen olympischen Briefmarken von 1896 versehen und deswegen nicht ganz billig sei. Außerdem würden sich darauf noch einige Unterschriften von unbekannten Personen befinden. Was der Anbieter nicht wusste, war, dass die größte Bedeutung der Karte nicht aus den Marken bestand, sondern dem Inhalt. Karl Rathjen wollte zunächst auf den Kauf verzichten, weil ihm der Preis zu hoch erschien. Doch dann ließ er sich die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, nachdem ihn seine Ehefrau überzeugt hatte. Über viele Jahre präsentierte er die Postkarte als Glanzstück seiner Olympia-Sammlung bei Briefmarken-Ausstellungen, bevor er sie 2017 an den Autor veräußerte. Wie bei seinem Vorgänger, der inzwischen verstorben ist, tritt sie bei philatelistischen Wettbewerbs-Ausstellungen weiterhin die Reise durch Deutschland und die Welt an.

 

Sportlich vielseitiger Turner

In einem Nachsatz auf der Postkarte aus Athen heißt es: ,,Lieber Leo! Sorge auch bestimmt für unsere Räder! Ich verlasse mich ganz bestimmt darauf. Besten Gruß, Felix“

Gustav Felix Flatow war nicht nur Turner, sondern auch ein ausdauernder Radfahrer, öfter auch unterwegs auf einem Tandem mit seinem Bruder Leo. Das erklärt mit, dass die olympischen Erfolge der deutschen Turner in anderen Sportarten nicht von ungefähr kamen, sondern ihrer vielseitigen Ausbildung zu verdanken waren. Denn unter Turnen verstand man nicht nur herkömmliche Übungen an den Geräten, sondern vielfältige Leibesübungen in freier Natur wie leichtathletische Disziplinen, Radfahren, Schwimmen, Wandern, aber auch Fechten oder Ringen.

Geschrieben wurde die Postkarte von Felix Flatow am 13. April 1896, aber postalisch abgestempelt in Athen bereits am 2. April um 11 Uhr. Wie ist das zu verstehen? Es war der 2. April nach dem in Griechenland bis 1923 verwendeten Julianischen Kalender. In Deutschland galt der im Westen gebräuchliche Gregorianische Kalender, der dem Julianischen um zwölf Tage vorauslief. Dieses Datum benutzte Flatow, als er die Karte einen Tag nach dem royalen Bankett schrieb.

 

Gustav Felix Flatow (auf dem Foto links) war auch ein guter Radfahrer. Der Hintermann auf dem Tandem ist sein Bruder Leo.
Foto: Volker Kluge Archiv

Griechenlands König gibt sich die Ehre

Das Frühstück mit dem König – das Wort Diner auf der gedruckten offiziellen Einladungskarte war durchgestrichen und handschriftlich ersetzt worden – im großen Saal seines Palais begann am 31. März (12. April) um 11.30 Uhr. Für die Sportler galt nicht die übliche strenge Kleiderordnung am Königshof, es wurde lediglich um das Tragen von Stadtkleidung gebeten. Wenn Flatow mitteilte, dass über drei Stunden getafelt wurde, dann kann er mit der Preisverteilung um 2 Uhr nicht denselben Tag gemeint haben. Die Siegerehrung sollte erst am 2. April bei der Abschlusszeremonie der Spiele vorgenommen werden. Aufgrund starker Regenfälle wurde die Veranstaltung um einen Tag verschoben, die Besten erhielten ihre Preise erst am 3. April (15. April). Den Olympiasiegern händigte der König im Panathenäischen Stadion eine Silbermedaille und ein Diplom aus. Gold war im Sport als schnöder Mammon verpönt und angesichts des griechischen Staatsbankrotts ohnehin nicht angemessen. Die Zweitplatzierten bekamen Medaillen aus Kupfer, die Dritten gingen leer aus. Für die Siege in den Mannschafts-Wettbewerben musste sich jeder Turner mit einer Urkunde begnügen und es gab nur eine Silbermedaille – eine für alle. Die Riegenmitglieder einigten sich, die Medaille Fritz Hofmann zu überlassen.

Die Turner waren in der Olympiastadt gefragte Gäste. Für den 30. März (11. April) erhielten sie eine Einladung von der Deutschen Gesellschaft Philadelphia in Athen. Mitglieder der Philadelphia hatten Turnern und weiteren deutschen Teilnehmern eine Unterkunft geboten, sie beköstigt und außerhalb der Wettbewerbe betreut. In den Räumen der Gesellschaft wurde an jenem Samstagabend um 21 Uhr laut der schriftlichen Einladung mit einem Glas Bowle auf die Erfolge der Landsleute angestoßen. Sämtliche Mitglieder des Vereins der in Athen lebenden Deutschen und deren Familien wurden willkommen geheißen. Für Carl Schuhmann gab es besonderen Grund, ein Gläschen zu genießen: Am Vormittag hatte der nur 1,58 Meter große Athlet das wegen Einbruchs der Dunkelheit tags zuvor abgebrochene und vertagte Finale im Ringen gegen den körperlich überlegenen Griechen Georgios Tsitas gewonnen.  König Georg I. gratulierte Schuhmann nach dessen überraschendem Sieg und  adelte ihn mit den Worten: ,,Herr Schuhmann, sie sind zurzeit der populärste Mann Griechenlands.“

Vielleicht geschah es unbewusst:  Felix Flatow trug sogar ein wenig zur Finanzierung der Olympischen Spiele bei, indem er seine Postkarte mit vier griechischen Olympia-Sonderbriefmarken frankierte, die antike Faustkämpfer und einen Diskuswerfer darstellen. Er kaufte Marken für insgesamt 10 Lepta, die korrekte Gebühr für eine Karte ins Ausland. Griechenland litt damals unter einer leeren Staatskasse und benötigte dringend finanzielle Mittel, um die Spiele vorbereiten und durchführen zu können. Wie gerufen kam eine Idee des Athener Postdirektors Dimitrios Sacoraphos. Er empfahl Kronprinz Konstantin, dem Präsidenten des Organisationskomitees der Olympischen Spiele und Vorsitzenden des Kampfgerichts, die Herausgabe eine Sonderserie von zwölf Briefmarken zu dem Anlass. Nachdem das Parlament den Vorschlag gebilligt hatte, erließ König Georg I. – der Schirmherr des olympischen Festes von 1896 – am 19. August 1895 ein entsprechendes Gesetz. Die Hälfte des Erlöses der Briefmarken sollte der Finanzierung der Spiele zugutekommen. Das Organisationskomitee erhielt fürs Erste in diesem Zusammenhang einen Sofortkredit von 400 000 Drachmen. Geradezu ein Segen war es, dass der reichste Grieche, der in Alexandria lebende Georgios Averoff, mit seiner großzügigen Spende von fast zwei Millionen Golddrachmen unter anderem ermöglichte, das Panathenäische Stadion fast in alter Pracht restaurieren zu lassen.

Den Olympia-Turnern blieb trotz der großen Erfolge nach der Rückkehr aus Athen die Anerkennung versagt. In der Deutschen Turnerschaft galten sie als Vaterlandsverräter und wurden wegen der Teilnahme an den Spielen für größere Wettkämpfe gesperrt. Zwei Jahren blieb der Bann bestehen.  Gustav Felix Flatow, Fritz Hofmann und Fritz Manteuffel erlebten 1900 in Paris mit der deutschen Turn-Mannschaft erneut Olympische Spiele. Sie konnten aber nicht an die Platzierungen von 1896 heranreichen. Manteuffel belegte im Mehrkampf den 71. Platz, für Flatow reichte es zu Rang 95. Hofmann leitete erneut die Riege wie auch 1904 in St. Louis und bei den Jubiläumsspielen 1906 in Athen, bei denen er zudem im 100-Meter-Vorlauf ausschied.

 

Einladung der Deutschen Gesellschaft Philadelphia in Athen zu einem Treffen mit den erfolgreichen Olympia-Turnern
Foto: Rüdiger Fritz Archiv

Grausamer Tod der Flatow-Cousins im KZ

Für die Cousins Gustav Felix und Alfred Flatow, die jüdischer Herkunft waren, sollte mit der Machtergreifung Hitlers ein grauenhafter Leidensweg beginnen. Der am 3. Oktober 1869 geborene Alfred, Turn-Schriftsteller und Fahrrad-Großhändler, wurde am 3. Oktober 1942 in das KZ in Theresienstadt, dem heutigen Terezin, deportiert und starb ein Vierteljahr später am 28. Dezember. Textilfabrikant Felix, geboren am 7. Januar 1875, emigrierte nach der Machtübernahme durch die Nazis in die Niederlande, wo er ein Zweigwerk besaß, und kam seinem Ausschluss aus der Deutschen Turnerschaft zuvor. Er wurde in der Silvesternacht 1943 an die Nationalsozialisten verraten und verhaftet. Felix Flatow verstarb am 30. Januar 1945 in Theresienstadt an den Folgen der Gefangenschaft. Zuletzt wog er nur noch 20 Kilogramm. Sein Bruder Leo, der Empfänger der Postkarte von den Olympischen Spielen 1896, blieb von solch einer Tragödie verschont. Er konnte 1933 in die USA auswandern.

Um die Welt über ihre wahren Absichten hinters Licht zu führen, wurden die Flatow-Cousins von den Nazis als Ehrengäste zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin eingeladen. Ihre Namen sind auch verewigt auf einer vor diesen Spielen am Olympia-Stadion eingeweihten Stele der Olympiasieger. Die Verfolgung der Juden war 1936 zeitweise ausgesetzt worden, um angebliche Toleranz zu beweisen und im Ausland an Ansehen zu gewinnen. Aber es dauerte nicht lange, bis die Nationalsozialisten wieder die Maske fallen ließen.

Hinterlassen haben die Flatows mit der Postkarte von 1896 aus Athen ein außergewöhnliches olympisches Dokument, das durch ihr späteres Schicksal eine zusätzliche tiefe Bedeutung erlangt hat.

Der Deutsche Turner-Bund (DTB) stiftete 1986 zum Gedenken an Alfred und Gustav Felix die Flatow-Medaille. Sie wird seit 1987 an herausragende Turnerinnen und Turner verliehen. Der Turnverband der DDR vergab ebenfalls 1987 einen Flatow-Pokal.