Das Schneevorspiel von Chamonix

Von Rüdiger Fritz

Männer der Tat waren schon immer gefragt. Während sich das IOC noch zierte, vom 25. Januar bis 5. Februar 1924 im französischen Chamonix-Mont-Blanc erstmals Olympische Winterspiele auszurichten und nicht nur – wie geschehen – eine Internationale Wintersport-Woche unter seinem Patronat, wurden in dem Ort am Fuße des mit 4810 Metern höchsten Berges der Alpen klare Fakten geschaffen. Wie von Geisterhand aufgezogen wehte in Chamonix gleich an vier Stellen die von IOC-Präsident Pierre de Coubertin erfundene weiße Olympische Fahne mit den fünf farbigen Ringen, das bis heute wichtigste Olympiasymbol: auf dem Pavillon des Sports direkt neben dem Olympiastadion mit der Eislaufbahn, am Ziel der Bobbahn, an der Sprungschanze und an der Fassade der Villa Valle, in der das Sportkommissariat des Olympischen Komitees Frankreichs sich zeitweise niedergelassen hatte.

Wem dieser Coup zu verdanken ist, lässt sich nicht genau belegen, aber alles deutet auf diese drei Franzosen aus dem Exekutivkomitee der Spiele der VIII. Olympiade 1924 hin: die IOC-Mitglieder Graf Justinien de Clary und Marquis Melchior de Polignac sowie Frantz-Reichel. Insbesondere Frantz-Reichel, der keinen Vornamen gebrauchte und seinen Namen meist mit einem Bindestrich versah, ist der Wink mit dem berühmten Tuch zuzutrauen. Als enger Mitstreiter und Freund von IOC-Präsident Pierre de Coubertin besaß der Generalsekretär des NOK Frankreichs, wortgewandte Sportjournalist, Rugby-Olympiasieger von 1900 und Leichtathletik-Olympiateilnehmer 1896 in Athen weitgehend freie Befugnisse und trat auch entsprechend selbstbewusst auf.

Die Geburt der Olympischen Winterspiele vor 90 Jahren verlief zäh. Im Grunde war es ein uneheliches Kind, das im Januar 1924 unter dem Namen Internationale Wintersportwoche zur Welt kam. Baron de Coubertin mit seiner Halbherzigkeit und jahrelangem Widerstand gegen eigenständige weiße Spiele und die Skandinavier mit ihren Bedenken, ihre Wintersportallmacht könnte leiden und besonders die ab 1901 in Schweden abgehaltenen Nordischen Spiele an Bedeutung verlieren, schoben zum Ärger einiger IOC-Mitglieder die Gründung der Winterspiele immer wieder hinaus.

Eine Marken-Zusammendruck aus Guinea von 2001 zeigt IOC-Präsident Pierre de Coubertin und erinnert an die I. Olympischen Winterspiele 1924 in Chamonix.

Eislaufen schon vorher bei Sommerspielen olympisch

Dabei hatte der französische Edelmann Coubertin schon bei der Gründungsversammlung des IOC 1894 in seiner Heimatstadt Paris das Eislaufen für das Programm der Olympischen Spiele vorgesehen. Aber erst 1908 in London nahm das Gestalt an. Zwölf Jahre mussten vergehen, bis bei den Spielen 1920 in Antwerpen erneut mit dem Eiskunstlauf und zur großen Überraschung dem Eishockey ein zweites Mal Wintersport-Wettbewerbe bei den Sommerspielen ausgetragen wurden.

Die nachfolgenden Geschehnisse im Zeitraffer: Da sich der Olympische Kongress im Juni 1921 in Lausanne und die daran gekoppelte IOC-Session nun ernsthaft mit dem Thema beschäftigten, gaben die Widerständler nach. Zwar umging es das IOC ein weiteres Mal, sich für selbständige Olympische Winterspiele zu entscheiden, gestattete aber den Veranstaltern der Sommerspiele, in ihrem Rahmen eine Wintersport-Woche durchzuführen, so sich aus territorialen Gegebenheiten dazu in der Lage sähen. Paris erhielt 1921 den Zuschlag für die Spiele 1924. Auf der IOC-Versammlung 1922 in der französischen Hauptstadt legte das Organisationskomitee der Spiele der VIII. Olympiade sein Vorhaben für Wintersport-Wettkämpfe im nordischen Skisport, Eiskunstlauf und Eishockey dar. An Möglichkeiten dafür sollte es der Grande Nation nicht fehlen. Am 20. Februar 1923, ein knappes Jahr vor den Spielen, wurde mit Chamonix-Mont-Blanc im Alpen-Departement Haute Savoie, der Ort für die historische Premiere unter mehreren Bewerbern präsentiert.

Der Olympische Kongress 1925 in Prag ebnet den Weg für eigenständige Olympische Winterspiele. Die Sonderganzsache mit dem entsprechenden Handsonderstempel und der auf den Anlass bezogenen Marke von 100 Heller ist exakt für den Versand ins Ausland frankiert.

Eine späte Genugtuung

Der Erfolg der Veranstaltung zeigte Wirkung und eine Odyssee näherte sich ihrem Ende. Das IOC entschied auf seiner 24. Session in Paris am 27. Mai 1925, eigenständige Olympische Winterspiele im Rhythmus von vier Jahren ins Leben zu rufen. Der sich unmittelbar daran anschließende 8. Olympische Kongress vom 29. Mai bis 4. Juni in Prag, auf dem Pierre de Coubertin als IOC-Präsident zurücktrat, bekräftigte die Entscheidung. Aber es musste ein weiteres Jahr vergehen, bis die 25. IOC- Vollversammlung am 6. Mai 1926 in Lissabon der Internationalen Wintersport-Woche von Chamonix rückwirkend den Status der I. Olympischen Winterspiele zuerkannte.

Das erste weiße Olympiafest hatte ursprünglich einen Bandwurmnamen, denn die offizielle Wortschöpfung lautete: Winterspiele in Chamonix-Mont-Blanc, organisiert durch das Olympische Komitee Frankreichs unter Mitarbeit der Französischen Föderation für Wintersport und des Alpinen Clubs Frankreichs unter dem hohen Patronat des Internationalen Olympischen Komitees aus Anlass der Feier der Spiele der VIII. Olympiade. IOC-Ehrenpräsident Coubertin versah das in seinen 1932 erschienen Olympischen Erinnerungen mit poetischem Charme. ,,Die Spiele der VIII. Olympiade wurden im Februar in Chamonix eröffnet, und dieses Schneevorspiel war in allen Punkten gut gelungen“, schrieb er. Wenn der Franzose damit auch großzügig die im Januar durchgeführte erste Wettkampf-Woche der Winterspiele namentlich überging, war alles deutlich gesagt: Chamonix galt als Anhängsel der Sommerspiele 1924 in Paris. Das Organisationskomitee für die Spiele in der französischen Hauptstadt setzte sich aus den gleichen Personen zusammen, die auch für die Internationale Wintersport-Woche zuständig waren. Die Verantwortung für den Wintersport lag dabei in den Händen von Adrien Maucourt.

 

Der Brief des Portugiesischen NOK ist an den Olympischen Kongress in Prag gerichtet. Der Empfänger Francisco Guedes führt später für viele Jahre als Präsident das NOK Portugals. Die Delegation seines Landes ist in Prag auch präsent wegen der nachfolgenden IOC-Session 1926 in Lissabon, auf der die I. Olympischen Winterspiele 1924 in Chamonix endgültig bestätigt wurden.

Das Hin und Her um die spätere Anerkennung der Veranstaltung im 1050 Meter hohen Chamonix am Fuße des Mont Blanc als I. Olympische Winterspiele hat auch die Olympia-Philatelie beeinflusst. Das offizielle philatelistische Nachschlagewerk ,,Post, Philately and Olympism“ des IOC, das 1984 erschienen ist, merkt an, dass die ersten Winterspiele 1924 in Chamonix von der Philatelie komplett ignoriert worden seien. Weder Briefmarken, Poststempel noch Vignetten seien erschienen. Mit viel gutem Willen, heißt es weiter, könne der auf dem Postamt Chamonix-Mont-Blanc verwendete Bandstempel ,,Sports d`Hiver / Chamonix-Mont-Blanc / Janvier 1924“ erwähnt werden. Wie das? Aufgrund der Konstruktion der Wintersport-Woche in den Alpen hätte eine Postverwaltung kaum auf die Idee kommen können, olympische Briefmarken oder Stempel zu verausgaben. Ein von den Sammlern sehr gesuchter Werbestempel bezog sich jedoch auf das Ereignis. Wenn im Nachhinein die Wintersport-Woche durch das IOC in den Status der I. Olympische Winterspiele erhoben wurde, dann ist es naheliegend, dem Stempel das Gleiche zuzubilligen. Erst recht trifft das auf den vom Organisationskomitee in Chamonix verwendeten Sonderbriefumschlag zu, der den damals weitest möglichen Hinweis auf Olympische Spiele enthält: die Winterspiele aus Anlass der VIII. Olympiade – Januar-Februar 1924. Illustriert ist der Umschlag mit dem Mont-Blanc-Massiv.

Der Briefumschlag des Organisations-Komitees von Chamonix zeigt die Verhältnisse auf: Die Winterspiele sind Bestandteil der VIII. Olympiade 1924 in Paris. Der Sonder-Bandstempel bewirbt schon Ende 1923 die Wintersportwoche in den Alpen. Das Datum ist im Gegensatz zu anderen Belegen ohne Leerfelder abgebildet.

Seltene Briefumschläge des Organisationskomitees

Der Briefumschlag mit dem passenden Sonderstempel stellt eine Seltenheit dar. Nach gemeinsamen Recherchen über die zurückliegenden 35 Jahren hinweg sind Laurentz Jonker, dem geschätzten niederländischen Olympia-Philatelisten, und mir neun solcher Komitee-Briefe zu Gesicht gekommen, sämtlich im Inland verschickt. Davon stammen vier aus der Zeit der Winterspiele. Der abgebildete Brief mit dem Stempel vom 18. Dezember 1923 ist mit 25 Centimes korrekt frankiert.

Mit der Schweiz, die in Chamonix mit 30 Teilnehmern die viertgrößte Mannschaft nach Frankreich (43), Großbritannien (34) und Schweden (31) stellte, würdigte ein zweites Land die Winterspiele. Wie bereits vier Jahre zuvor zu den Olympischen Sommerspielen 1920 in Antwerpen gaben die Eidgenossen eine Postkarte heraus, deren Verkaufserlös die Finanzierung des Olympia-Teams unterstützen sollte. Der Anlass VIII. Olympiade Paris 1924 ist mit einem Handstempel-Zusatz ,,Chamonix“ versehen. Auf die Bildseite wurde außerdem eine Vignette vom Alpinen Club Frankreichs zu internationalen Ski-Wettkämpfen 1912 in Chamonix geklebt. Das Besondere daran ist jedoch der diagonale violette Aufdruck ,,Jeux d`Hiver 1924“ zu den Winterspielen. Versendet wurde die Karte von den Olympischen Spielen in Paris. Anlassbezogen sind die Frankatur und der Rollstempel.

Die philatelistische Werbekampagne für die Internationale Wintersport-Woche lief beizeiten an. Der erste bekannt gewordene echt gelaufene Beleg vom endlosen Bandstempel mit dem dreizeiligen Werbeeinsatz ,,Sports d`Hiver / Chamonix-Mont-Blanc / Janvier 1924“ zwischen sechs Linien datiert vom 14. November 1923, 11 Uhr. Entwertet wurde damit ein Luftpostbrief nach Rabat in Marokko. Belegen lässt sich auch ein Stempel vom 12. November 1923, 11 Uhr. Es handelt sich allerdings um einen Probeabschlag, der im ersten Teil des Offiziellen Report der Spiele der VIII. Olympiade auf Seite 65 abgebildet ist. Zu sehen sind außerdem mit dem Hinweis ,,spécimens d`oblitérations postales Olympiques“ (Probe-Vorlagestücke der olympischen Poststempel) der Pariser Maschinenwerbestempel Paris XVI – Place Chopin 19.11.23 und der Krag-Rollstempel der ersten Serie von Paris 26 – Rou Faubg. St. Denis 15.11.23 mit dem Text in vier Zeilen zwischen fünf Linien. Die Stempel-Laufzeit erstreckt sich bis zum 6. Februar 1924, den Tag nach dem Abschluss der Winterspiele. Demnach wurde das Ereignis 85 Tage lang postalisch beworben.

In dem Werbeeinsatz ist nicht die Rede von den Winterspielen, wie auf dem Sonderumschlag des Organisationskomitees, sondern vom Sports d`Hiver, dem Wintersport. Der Zeitangabe beschränkt sich auf den Januar (Janvier) 1924, obwohl die Spiele fünf Tage in den Februar hineingereicht haben. Auch im Bezug darauf ist der Komitee-Umschlag korrekter. Auffallend an dem Endlosstempel aus Metall ist die optisch gute Wiedergabe mit klaren, filigranen Konturen. Anders als die vergleichbaren Rollstempel von den Sommerspielen im gleichen Jahr in Paris, die häufig nicht vollständig abgebildet oder verschmiert sind.

Sonderstempel mit einigen Besonderheiten

In dem Einkreis-Stempelkopf mit dem vollständigen Ortsnamen Chamonix-Mont-Blanc und der Departements-Bezeichnung Hte (Haute) Savoie war die Datumszeile verstellbar. Der Tag, das Jahr und am Schluss die Uhrzeit mit dem Zusatz ,,H“, was für die Bezeichnung heures (Stunden) steht, wurden in arabischen Ziffern wiedergegeben, der Monatsname in römischen Zahlen. Die erste Uhrzeit auf dem Stempel stammt von 7 Uhr morgens. Alle zwei Stunden erfolgte bei der Postabfertigung eine neue Einstellung. Bei den insgesamt analysierten 79 Stempeln aus dem gesamten Verwendungszeitraum tauchen weiterhin 11, 15 und 17 Uhr auf.

Die Suche nach den Zeiten 9 und 13 Uhr verlief ergebnislos. Aus dem Rahmen fällt ein Sonderbriefumschlag des Organisationskomitees der Sommerspiele in Paris mit dem Chamonix-Rollstempel vom 31. Januar 1924. Als Uhrzeit wird 6:30 angezeigt. Gleich drei Besonderheiten sind daran erkennbar: Uhrzeiten mit geraden Stundenzahlen waren bei dieser Stempelverwendung unüblich, erst recht Minutenangaben. Zudem fehlt der Buchstabe ,,H“ für heures (Stunden). Da diese Kuverts nur von Mitarbeitern des Komitees verwendet wurden, könnte es sich um eine Sonderabfertigung bei der Post gehandelt haben. Unterschiede in der Stempeleinstellung lassen darauf schließen, dass auf der Rolle zwei Stempelköpfe aufmontiert waren.

So erklären sich auch bei einem Beleg, den Manfred Bergman, der Grandseigneur der Olympia-Philatelie, besitzt, zwei unterschiedliche Tagesangaben. Einige Abweichungen in der Datumszeile deuten darauf hin, dass es nicht einfach war, per Hand präzise die Umstellungen an den Ziffernrädchen des Ortsstempels vorzunehmen oder dass sich die Postbediensteten nicht akribisch genug der Sache annahmen. So existieren Abstempelungen, bei denen vor der Tagesangabe oder der Uhrzeit ein Querstrich auftaucht, seltener auch ein schwarzes Quadrat vor der Uhrzeit. Das Datum wurde entweder mit oder ohne Leerzeichen eingestellt. Charakteristisch für den Stempel ist ein sonst unüblicher Punkt hinter der Jahreszahl „24“.

Auslandspost mit dem Chamonix-Stempel wie hier vom 15. Januar 1924 in die Schweiz ist selten anzutreffen. Der Ankunftsstempel von Martigny-Croix belegt den Postweg von drei Tagen.

Wieder taucht in dem Sonderstempel der Querstrich auf, dieses Mal in beiden Kreisstempeln von Chamonix. Der 24. Januar 1924 wird oft als Tag der Eröffnungszeremonie benannt. Diese sollte allerdings erst tags darauf erfolgt sein. Verschiedene Daten im offiziellen Report der Spiele der VIII. Olympiade haben für unterschiedliche Interpretationen gesorgt.

Nordländer trumpfen 1924 am Mont Blanc auf

Die Skandinavier, die sich so vehement gegen die Einführung der Olympischen Winterspiele gesträubt hatten, waren wie erwartet die großen Gewinner von Chamonix. Sie beherrschten besonders die Ski-Wettkämpfe und die Wettbewerbe im Eisschnelllauf. Der finnische Eisschnellläufer Clas Thunberg war der erfolgreichste Teilnehmer mit drei Siegen und je einem zweiten und dritten Platz. Am 27. Januar, einem Sonntag, triumphierte er gleich zwei Mal: über 1500 Meter und im Mehrkampf. Der damals bereits fast 31-Jährige war so überlegen, dass er in Anlehnung an seinen berühmten Landsmann Paavo Nurmi, den Langstreckenläufer und neunfachen Olympiasieger, den Beinamen ,,Nurmi des Eises“ erhielt. Das finnische Glück am 27. Januar 1924 war perfekt, als es auf dem Eisoval im Lauf über 10 000 Meter durch Julius Skutnabb und Thunberg einen doppelten Triumph gab.

Das erst 11-jährige Mädchen, das am Nachmittag des 29. Januar im Patinoire von Chamonix beim Eiskunstlauf über die Fläche hoppelte, nahm damals noch keiner so richtig wahr. Für Sonja Henie reichte es nur zum achten und letzten Platz in der von der Österreicherin Herma Plank-Szabo dominierten Konkurrenz. Keiner konnte ahnen, dass mit der blutjungen Norwegerin der künftige große Star der Szene sein internationales Debüt gegeben hatte. Henies drei Olympiasiege von 1928, 1932 und 1936 sowie ihre zehn Weltmeistertitel hintereinander von 1927 bis 1936 blieben bis heute unerreicht. Einige Stunden vor dem Start Sonja Henies in Chamonix bestritt der Schwede Gillis Grafström am Vormittag den ersten Teil des Eiskunstlauf-Wettkampfes der Männer, der sich über zwei Tage hinzog und den er klar beherrschte. Von allen Siegern in Chamonix konnte sich Grafström als einziger rühmen, schon einmal einen Wintersport-Wettkampf gewonnen zu haben, als er noch ein Teil der Olympischen Sommerspiele war. Das geschah 1920 in Antwerpen. Der Schwede schaffte 1928 in St. Moritz noch das Triple als Olympiasieger und war 1932 in Lake Placid im Alter von fast 39 Jahren noch Silbermedaillengewinner.

Daran, dass Norwegen mit vier Gold-, sieben Silber- und sechs Bronzemedaillen die erfolgreichste Mannschaft in Chamonix stellte, hatte Thorleif Haug einen großen Anteil. Er war der Skikönig der Spiele mit seinen Siegen in den Langläufen über 18 und 50 Kilometer und der Nordischen Kombination.

Auslandspost mit dem Chamonix-Stempel wie hier vom 15. Januar 1924 in die Schweiz ist selten anzutreffen. Der Ankunftsstempel von Martigny-Croix belegt den Postweg von drei Tagen.

Wieder taucht in dem Sonderstempel der Querstrich auf, dieses Mal in beiden Kreisstempeln von Chamonix. Der 24. Januar 1924 wird oft als Tag der Eröffnungszeremonie benannt. Diese sollte allerdings erst tags darauf erfolgt sein. Verschiedene Daten im offiziellen Report der Spiele der VIII. Olympiade haben für unterschiedliche Interpretationen gesorgt.

Aufregung um den Skispringer Haugen

Am 4. Februar gewann er neben der Kombination noch die Bronzemedaille im Skispringen hinter seinen Landsleuten Tullin Thams und Narve Bonna. Platz vier im Spezialsprunglauf belegte Anders Haugen aus den USA, ein gebürtiger Norweger, der 1908 ausgewandert war. Viele Jahre später sollte daraus eine denkwürdige und anrührende Olympia-Geschichte werden. Haugen weilte in Chamonix nicht nur als Wettkampf-Teilnehmer. Er gehörte als einziger Abgesandter des US-amerikanischen Skiverbandes NSAA zu den 35 Delegierten aus 14 Ländern, die am 2. Februar 1924 die Fédération Internationale de Ski (FIS) gründeten, den Internationalen Ski-Verband. Haugen war der einzige aktive Sportler bei der dreitägigen Gründungsversammlung im Hotel Majestic.

Auf der Skisprungschanze ,,Le Mont“ fiel Haugen durch seine verwegenen Sprünge auf. Er sprang am weitesten von allen, in der Addition beider Versuche auch einen Meter weiter als der Sieger Tullin Thams und übertrumpfte den Drittplatzierten Haug um neuneinhalb Meter. Dennoch blieb für ihn nur Platz vier. Das US-Team war bestürzt. Der Bürgermeister von Minneapolis im Bundesstaat Minnesota, der neuen Heimat von Haugen, erwog erzürnt, einen Protest einzureichen. Damals war es beim Skispringen üblich, dass neben drei Weitenrichtern ebenso viele Juroren tätig waren, die ausschließlich Haltungsnoten vergaben. In diesem Bereich aber besaß Anders Haugen schlechte Karten. Der tschechische Haltungs-Juror Albert Stenge bemängelte den schlechten Sprungstil des US-Amerikaners. ,,Er konnte sich nicht mit den drei Norwegern vergleichen, die vor ihm waren“, befand Stenge. ,,Er hat allen Stil bei Seite gelassen und alle Kraft auf die Weite gelegt.“ Da überdies das Wertungssystem sehr kompliziert und kaum durchschaubar war bis hin zu Tausendstelpunkten hinter dem Komma, blieb das Resultat unangetastet. Zumindest ein halbes Jahrhundert lang.

Bei einem Treffen der sechs noch lebenden norwegischen Olympiateilnehmer von Chamonix Ende 1973 am berühmten Holmenkollen vor den Toren Oslos brachte pikanter Weise Thoralf Strömstad, der Silbermedaillengewinner im 50-Kilometer-Skilanglauf und in der Nordischen Kombination jeweils hinter Haug, den Stein ins Rollen. Er glaubte, bei den Sprungergebnissen von 1924 einen Fehler entdeckt zu haben. Der Direktor des gastgebenden Holmenkollen-Skimuseums, Jakob Vaage, wurde hellhörig und nahm sich der Sache an. Er fand heraus, dass tatsächlich Anders Haugen der dritte Platz zugestanden hätte und nicht Thorleif Haug. Das IOC stimmte einer Änderung des Sprungergebnisses zu. Dreifach-Olympiasieger Haug lebte zu dieser Zeit schon lange nicht mehr. Er war 1934 im Alter von 40 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. So blieb es seiner Schwester Anne-Marie Magnusson vorbehalten, die Dinge gerade zu rücken. Sie übergab 1974 im Holmenkollen-Haus, genau 50 Jahre nach dem Ereignis in Chamonix, dem aus dem kalifornischen Yucaipa angereisten 86-jährigen Anders Haugen die Bronzemedaille ihres Bruders. Ein wahrhaft olympisches Happy-End.

Der Bandstempel vom 29. Januar 1924 ist zwar nicht sehr deutlich abgebildet, weist aber auf ein besonderes Datum hin. An diesem Tag, etwa zwei Stunden nach der Abstempelung der Karte um 11 Uhr, gab es den Auftritt von Sonja Henie im Patinoire von Chamonix, dem noch so viele große folgen sollten.

Thorleif Haug, der Ski-König von Chamonix, auf einer Briefmarke seines Heimatlandes Norwegen.

Das kommt schon einmal vor bei einem Bandstempel. Auf dieser Karte ist er etwas verrutscht, wie der gequetschte Ortsstempel zeigt. Nichtsdestotrotz weist der Abschlag auf ein denkwürdiges Datum hin, den 4. Februar 1924. An diesem Tag wurde unter anderem der Spezialsprunglauf ausgetragen, dessen Ergebnis 50 Jahre später korrigiert worden ist.

Chamonix zerstreut Coubertins Bedenken

Ein halbes Jahrhundert vorher war auch IOC-Präsident Pierre de Coubertin erfreut, dass die ersten Winterspiele so gut verlaufen waren. Nachdem er der Eröffnungsfeier noch ferngeblieben war, ließ er es sich am 5. Februar 1924 nicht nehmen, auf der Abschlusszeremonie vor den Teilnehmern eine Rede zu halten und die Internationale Wintersport-Woche für beendet zu erklären. Direkt im Anschluss an das Ereignis von Chamonix luden der Club Alpin Francais, das Nationale Tourismus-Büro, der Touring Club Francais und weitere Organisatoren zu einer mehrtägigen Werbe-Reise in die Alpen und an die Cote d`Azur ein. An der Autokarawane, die von den Citroen-Niederlassungen in Chamonix, Aix les Bains und Grenoble zusammengestellt wurde, sollten sich 50 Offizielle der Spiele, Wintersport-Funktionäre, Presseberichterstatter, Tourismusvertreter und auch zehn olympische Champions beteiligen. Während die Sportler verzichteten und nach den schweren Wettkämpfen lieber in ihre Länder heimkehrten, unternahmen die anderen Gäste eine mit vielen Empfängen drapierte Fahrt, die unter anderem nach Grenoble führte, die Stadt der Olympischen Winterspiele 1968. Unter den Reisenden war der IOC-Präsident. Vielleicht hat die Gute-Laune-Tour gleich nach den ereignisreichen Tagen 1924 in Chamonix dazu beigetragen, Pierre de Coubertins lange Bedenken von der Berechtigung Olympischer Winterspiele endgültig zu zerstreuen.

Grenoble sollte 1968 die zweite französische Stadt in den Alpen werden, die Olympische Winterspiele ausrichtete. Natürlich wurde dabei die Erinnerung an den Auftakt 1924 geweckt. Einen originellen Einfall hatte das Tourismus-Büro des ersten Olympiaortes Chamonix. Es ließ in der geringen Auflage von 550 Stück auf starkem Büttenpapier eine vierseitige Mappe herstellen. Der Verkaufserlös wurde für den Bau eines Denkmals in Chamonix für die Olympischen Winterspiele 1924 verwendet. Ein Stahlstich, der dem 1924er Olympia-Plakat von Auguste Matisse nachempfunden wurde, ziert die erste Seite. Eine olympische Briefmarke Frankreichs von 1924 und die Markenausgabe für die Spiele in Grenoble, die mit dem Ersttags-Sonderstempel vom 27. Januar 1968 versehen ist, stellen die Verbindung zwischen beiden Ereignissen her. Blatt zwei zeigt die Titelseite der angesehenen Pariser Zeitung Figaro vom 6. Februar 1924 mit einem ausführlichen Abschlussbericht von den Winterspielen in Chamonix. Auf der dritten Seite ist eines der vier Olympia-Plakate von 1924 zu sehen. Außergewöhnliches für Autogrammsammler bietet das letzte Blatt. Es enthält 17 Unterschriften von Siegern und Medaillengewinnern in Chamonix. Die Tinten-Namenszüge sehen täuschend echt aus. Doch zumindest bei Alfred ,,Fredl“ Berger (geboren 1894 – verstorben 1966), Gillis Grafström (1893-1938), Thorleif Haug (1894-1934), Julius Skutnabb (1889-1965) und Tullin Thams (1898-1954) handelt es sich um Faksimiles, denn sie haben zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelebt. Anders könnte sich das verhalten bei Willy Böckl (1893-1975), Narve Bonna (1901-1976), Helene Engelmann (1898-1985), Johan Gröttumsbraten (1899-1983), Charles Jewtraw (1900-1996), Andrée Joly (1901-1993), Pierre Brunet (1902-1991), Beatrix S. Loughran (1900-1975), Tapani Niku (1895-1989), Thoralf Strömstad (1897-1984), Herma Szabo-Plank (1902-1986) und Clas Thunberg (1893-1973). Doch wer legt für die Echtheit der Autogramme die Hand ins Feuer? Gleich wie, es sind beeindruckende Zeugnisse aus der Gründerzeit der Olympischen Winterspiele vor nunmehr 90 Jahren.
Fritz, Rüdiger (2014). Jahres-Sonderheft Internationale Motivgruppe Olympiaden und Sport (IMOS)

Anders Haugen aus den USA, gebürtiger Norweger, hat seine Unterschrift auf diesen Brief von den Olympischen Winterspielen 1960 in Squaw Valley gesetzt. Da konnte er noch nicht ahnen, dass er einmal zum olympischen Bronzemedaillengewinner im Skispringen befördert werden würde.

Ende gut, alles gut: Am 5. Februar 1924, dokumentiert durch den Sonderstempel auf dieser Postkarte, ging die Internationale Wintersport-Woche in Chamonix erfolgreich zu Ende. Das hat auch IOC-Präsident Coubertin überzeugt, eigenständigen Olympischen Winterspielen nicht mehr im Weg zu stehen.