Von Rüdiger Fritz
Wie sehr hatte das stolze und mit wachsendem Selbstvertrauen versehene Mexiko dieses Ereignis herbeigesehnt: die ersten Olympischen Spiele in Lateinamerika und in einem Entwicklungsland. Die Spiele der XIX. Olympiade in Mexiko-Stadt 1968 verblassen auch 50 Jahre später nicht in der Erinnerung als eine Veranstaltung mit sportlichen Höchstleistungen im Übermaß und kulturellen Höhepunkten. Über 3,8 Millionen Zuschauer verfolgten vom 12. bis 27. Oktober die Wettkämpfe in 18 Sportarten sowie die Eröffnungs- und Abschlussfeier, so viele wie nie zuvor. Als das Olympische Feuer nach seiner langen Reise über 13 536 Kilometer vom griechischen antiken Olympia aus am 12. Oktober 1968, dem Eröffnungstag der Spiele, in der Hauptstadt des Aztekenlandes eintraf, dachte im Schwange der Begeisterung keiner mehr daran, dass Mexiko ein drittes Mal Anlauf nach 1956 und 1960 nehmen musste, um die Spiele zu bekommen.
Das 2248 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Olympiastadion sollte zum Symbol werden für eine Leistungsexplosion in der Leichtathletik. Im Estadio Olimpico Universitario wurden an den acht Wettkampftagen nicht weniger als 17 Weltrekorde aufgestellt oder egalisiert. Glückliche Umstände begünstigten die Rekordflut besonders in den Schnellkraftdisziplinen. Der Effekt der ,,dünnen“ mexikanischen Höhenluft verstärkte sich bei Rückenwind in den Sprint- und Sprungwettbewerben. Hinzukam, dass erstmals bei den Spielen auf einer vom Wetter unabhängigen, leistungsfördernden Tartanbahn gelaufen wurde.
Mexikanischer Handsonderstempel zum Olympischen Fackellauf vom 12. Oktober 1968 von der Ankunft der Flamme in Mexiko-Stadt auf illustriertem Briefumschlag mit Route der Strecke ab dem antiken Olympia. Sondermarke vom Olympiastadion und Ersttags-Maschinenstempel 12. Oktober 1968, an dem die Spiele eröffnet wurden
Der Prestigekampf der politischen Machtblöcke in Ost und West hatte sich mit dem Anheizen des Kalten Krieges auch auf den Hochleistungssport übertragen. Für die Vorbereitung auf Mexiko 1968 wurden keine Mittel gescheut, Überlegenheit mittels Medaillen zu demonstrieren. Die USA bauten 1962 eine Kunststofflaufbahn auf dem 2250 Meter über dem Meeresspiegel liegenden kalifornischen Pass Summit Echo bei South Lake Tahou, womit die Höhenbedingungen von Mexiko-Stadt exakt simuliert werden konnten. Die UdSSR-Athleten trainierten im 2100 Meter hohen Zachkadsor im Kaukasus, für die Sportler aus der DDR wurde in einem ehrgeizigen Projekt ein Trainingslager in Belmeken im bulgarischen Piringebirge errichtet. Die Leichtathleten der USA trugen fünf Wochen vor Beginn der Spiele in South Lake Tahou sogar das Finale ihrer Olympia-Ausscheidungen aus, dem die Vor-Qualifikation der Olympic Trials in Los Angeles vorausgegangen war. Getüftelt wurde, was das Zeug hielt, wenn das auch nicht in jedem Fall gut ging. Den vier beim Finale der Trials erzielten Weltrekorden blieb die Anerkennung versagt, weil die Athleten statt der vorgeschriebenen Spikes mit maximal acht den nicht erlaubten ,,Bürstenschuh“ mit 68 kurzen Dornen benutzt hatten. Betroffen waren unter anderem John Carlos bei seinem 200-Meter-Sieg über Tommie Smith und Lee Evans, der Gewinner über 400 Meter. Athleten, von denen in Mexiko-Stadt noch viel zu sehen sein sollte …
Als es in Mexiko um olympisches Gold im 200-Meter-Lauf ging, drehte Smith den Spieß gegen seinen Landsmann Carlos um. Er siegte in der Weltrekordzeit von 19,8 Sekunden, Carlos blieb der dritte Platz hinter dem Australier Peter Norman. Für das größte Aufsehen sorgten die beiden Amerikaner aber bei der Siegerehrung, zu der sie ohne Schuhe in schwarzen Socken erschienen, dem Zeichen für Armut. Als ihnen zu Ehren die Fahne der USA gehisst und die Hymne gespielte wurde, senkten sie den Kopf und reckten aus Protest gegen die Diskriminierung in der amerikanischen Gesellschaft eine im schwarzen Handschuhe steckende Faust in die Luft. Ein Bild, das um die Welt ging. Der ,,Black Power“-Gruß hatte für Smith und Carlos ein Nachspiel. Das Exekutivkomitee des IOC warf den Athleten vor, gegen die bei den Spielen gebotene politische Neutralität verstoßen zu haben. Das NOK der USA schloss sie aus der Mannschaft aus und forderte sie auf, das Olympische Dorf zu verlassen. Zwei Tage nach der Aufsehen erregenden Aktion der Sprinter holte sich Lee Evans den Olympiasieg über 400 Meter und lief dabei in elektronisch gestoppten 43,86 Sekunden einen Weltrekord, der 20 Jahre bestand.
Trotz der vielen erstklassigen Leistungen in der Leichtathletik ragte aber der Auftritt des US-amerikanischen Weitspringers Bob Beamon noch einmal heraus. Was am 18.Oktober im Olympiastadion geschah, hielten viele auch Jahre später für nicht erklärbar und griffen zu Formulierungen der höchsten Bewunderung. Der Sprung von 8,90 Meter im ersten Durchgang, mit dem der 22 Jahre alte Afroamerikaner den Weltrekord gleich um 55 Zentimeter verbesserte, wurde mit einem Vogelflug verglichen oder als Sprung in das nächste Jahrtausend tituliert.
Alles Optimale traf an diesem Nachmittag um 16.42 Uhr Ortszeit zusammen: Beamon wurde bei seinem Wundersprung mit dem maximal erlaubten Rückenwind von 2,0 Meter pro Sekunde unterstützt, die Höhenluft verstärkte noch diesen Effekt. Perfekt traf er den Absprungbalken nach einer hohen Anlaufgeschwindigkeit, wie sie bis dahin noch gemessen worden war. Dazu kamen seine idealen körperlichen Voraussetzungen mit 1,91 Meter Größe und dem Gewicht von 70 Kilogramm. Das Chaos an der Weitsprunggrube war perfekt, den die Messanlage reichte nur bis 8,60 Meter. Ein Bandmaß musste zur Hilfe genommen werden. 21 lange Minuten vergingen, bis die genaue Sprungweite feststand. Diese musste dem fassungslosen Beamon erst noch ,,übersetzt“ werden, der seine Weiten nach Meter und Zentimeter zu beurteilen gewohnt war: also 29 Fuß und 2,5 Inches. Erst als er das vernahm, riss er die Arme hoch tänzelte umher bis ihn die Emotionen übermannten und die Beine weich wurden.
23 Jahre vergingen, bis die Beamon-Bestmarke gelöscht wurde durch seinen Landsmann Mike Powell, der bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1991 in Tokio 8,95 Meter und damit fünf Zentimeter weiter sprang. Bei Olympischen Spielen hat aber selbst ein halbes Jahrhundert später noch niemand die Rekordmarke von Beamon übertroffen.
Die Besonderheiten dieser großen Leichtathletik-Tage waren damit noch nicht beendet. Zwei weitere US-Athleten standen im Mittelpunkt. Diskuswerfer Alfred Oerter wurde als erster Leichtathlet zum vierten Mal hintereinander Olympiasieger. 21 Jahre jung war Richard ,,Dick“ Fosbury, als er die 80 000 Zuschauer in Erstaunen versetzte mit seiner revolutionären Hochsprungtechnik. Rückwärts sprang er als Einziger über die Latte, was selbst bei den Olympischen Spielen viele Zuschauer und Experten als eine Kuriosität empfanden, auch noch, als er die Goldmedaille für die überquerten 2,24 Meter gewann. Fosbury-Flop wurde seine Technik getauft. Seinen Namen, der als Erklärung dienen musste, braucht man dafür bald nicht mehr. Die Kreation setzte sich schnell durch, hieß nur noch Flop.
Ende der gemeinsamen deutschen Mannschaft
Die Leichtathletik bestand damals aus weit mehr als den Siegertypen aus den USA. Den afrikanischen Läufern gelang endgültig der Durchbruch zur absoluten Spitze auf den Mittelstrecken und besonders auf den längeren Distanzen. Dabei kam ihnen in Mexiko-Stadt zu Gute, dass sie in ähnlicher Höhe zu Hause waren und nicht mit Luftproblemen zu kämpfen hatten wie viele ihrer Konkurrenten. Die deutschen Athleten mischten ebenfalls munter mit. Gold ging an Geher Christoph Höhne und Kugelstoßerin Margitta Gummel aus der DDR und die bundesdeutsche Fünfkämpferin Ingrid Becker.
Nachdem 1956 in Melbourne, 1960 in Rom und 1964 in Tokio eine gesamtdeutsche Mannschaft an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, erkannte das IOC auf seiner 64. Vollversammlung 1965 in Madrid das NOK der DDR endgültig an. Damit endete die Zeit der gemeinsamen Teams. Bei den Spielen in Mexiko-Stadt waren zum ersten Mal die Mannschaften der DDR und der Bundesrepublik getrennt vertreten, was sich erst ab 1992 wieder änderte. Im Aztekenland war die Trennung aber noch nicht komplett vollzogen. Die beiden Mannschaften starteten – wie bei der IOC-Session 1965 in der spanischen Hauptstadt festgelegt – unter der schwarz-rot-goldenen Flagge mit weißen Olympischen Ringen. Als Olympiasieger-Hymne wurde der Schlusschor von Beethovens Neunter Sinfonie gespielt, was neun Mal für DDR- und fünf Mal für BRD-Athleten der Fall war. Die DDR wurde in Mexiko noch als Ost-Deutschland geführt. Bei der 68. Session des IOC, die in Mexiko-Stadt unmittelbar vor den Spielen abgehalten wurde, drängte das NOK der DDR auf die souveräne Staatsbezeichnung, was zunächst auf die Beratung im Folgejahr vertagt wurde. Doch am Eröffnungstag der Olympischen Spiele stimmte das Internationale Olympische Komitee nach erneuter Beratung der Bezeichnung NOK der Deutschen Demokratischen Republik zu mit der Einschränkung, dass dies erst ab dem 1. November 1968 gelte.
Die deutschen Athleten hatten während der Spiele kaum ein Ohr für diese sportpolitischen und diplomatischen Vorgänge. Sie hatten sich voll auf ihre Wettkämpfe zu konzentrieren. Neben der Leichtathletik spielten sie besonders im Rudern ihre Stärken aus. Bei der Regatta auf dem Kanal in Xochimilco glänzten als Olympiasieger der Zweier (Jörg Lucke, Heinz-Jürgen Bothe) und der Vierer ohne Steuermann (Frank Forberger, Dieter Grahn, Frank Rühle, Dieter Schubert) aus der DDR und der Achter aus der Bundesrepublik.
Trainer und Ruder-Professor Karl Adam formte den Deutschland-Achter in Ratzeburg und führte das prestigeträchtige Boot wie schon 1960 in Rom auf dem Lago Albano zum olympischen Gold. Schlagmann Horst Meyer war als Einziger noch aus dem Achter übriggeblieben, der 1964 in Tokio die Silbermedaille gewonnen hatte. Nach sechs Weltmeister- und Europameister-Titeln in Reihenfolge ab 1962 wollte er in Xochimilco seine Karriere krönen. Am Vortag des Finales meldete sich Bugmann Roland Böse mit einer Mandelentzündung krank, was erst einmal für Unruhe sorgte. Für ihn wurde Nikolaus Ott in das Boot genommen, der mit dem Vierer mit Steuermann im Halbfinale ausgeschieden war. Als der knappe Sieg vor Australien eingefahren und Ott mehr zufällig Olympiasieger geworden war, entschied er sich zu einer großen Geste. Er schenkte dem erkrankten Roland Böse seine Goldmedaille. Später erhielt Nikolaus Ott eine Nachprägung, die vom IOC genehmigt worden war.
Offizieller Brief von der Session des IOC in Mexiko-Stadt mit Olympia-Mischfrankatur und zwei Handsonderstempeln. Die Session stellte die Weichen für künftig zwei komplett souveräne deutsche Olympia-Mannschaften. Eingeschlichen hat sich auf dem Briefumschlag ein Fehler, denn es handelte sich nicht um die 67., sondern um die 68. Vollversammlung des Gremiums.
Ein Traum wurde wahr für den Steuermann Gunther Tiersch, der mit gerade 14 Jahren Olympiasieger wurde. Als Sechsjähriger hatte er in seiner Heimatstadt Ratzeburg mit großen Augen den Empfang des Gold-Achters von 1960 auf dem Marktplatz erlebt und fortan davon geträumt, selbst im Ruderboot zu sitzen. Im Winter von 1966 zu 1967 steuerte er erstmals einen Jugend-Zweier. Karl Adam, der auf der Suche nach einem Steuermann für den nationalen Achter war, wurde auf den 13-jährigen Gunther Tiersch aufmerksam. Viel Zeit blieb dem Jugendlichen nicht, zu lernen, wie ein 18 Meter langes Boot meisterhaft gesteuert wird, so wie es sich für einen Adam-Achter gehört. Im Olympia-Endlauf musste er reagieren, als die starken Australier den Deutschen näher kamen. Auf Zuruf von Schlagmann Meyer gab Tiersch schon 500 Meter statt wie vorgesehen 300 Meter vor dem Ziel das Kommando an das Team, den Endspurt zu beginnen, was sich als glückliche Entscheidung erwies. Denn es reichte nach 6:07,00 Minuten zum Olympiasieg mit einem Vorsprung von 98 Hundertstelsekunden.
Nach der Ruder-Karriere und dem Abitur studierte Gunther Tiersch in Berlin und wurde Diplom-Meteorologe. Sein goldener Auftritt in Mexiko war im TV von vergleichsweiser kurzer Dauer, denn das Ruderrennen dauerte etwa sechs Minuten. Die mediale Präsenz von Gunther Tiersch steigerte sich später beträchtlich. Der Meteorologe nahm eine Anstellung beim ZDF an, baute dessen Wetterredaktion mit auf und wurde dessen Leiter. Seit über 30 Jahren steht der ,,Wetterfrosch“ vor der Kamera nach den Sendungen ,,heute“ und ,,heute journal“.
Der Olympiasieger-Achter schickte diese Postkarte am Eröffnungstag der Spiele in die Heimat. Die Karte mit der Olympiafrankatur wurde mit dem Sonderstempel des Postamtes im Olympischen Dorf ,,Miguel Hidalgo“ entwertet. Unterschrieben haben, von oben links: Lutz Ulbricht, Rüdiger Henning, Roland Böse (im Finale von Nikolaus Ott ersetzt), Egbert Hirschfelder, Wolfgang Hottenrott, Steuermann Gunther Tiersch, Trainer Karl Adam, rechts von oben: Dirk Schreyer, Jörg Siebert, Schlagmann Horst Meyer
Erfolgreich verlief für Sportler aus der DDR das Turnier im Ringen. Im Griechisch-Römischen Stil gab es gleich zwei Goldmedaillen durch Rudolf Vesper im Weltergewicht und Mittelgewichtler Lothar Metz, der vier Jahre zuvor in Tokio bereits eine Bronzemedaille gewonnen hatte und schon 1960 in Rom Olympia-Zweiter geworden war. Um sich im Ringkampf weiterzuentwickeln, war Lothar Metz, der aus der Gemeinde Auerbach im Erzgebirge stammte, nach Rostock gezogen. Sportlich vielseitig wuchs er in seiner Heimat auf und versuchte sich neben Leichtathletik und Radsport auch – wie es in einer Gegend des Wintersports fast selbstverständlich ist – im Skispringen.
Für die Hockey-Mannschaft der DDR, die Elfter wurde, erwies sich das Turnier als endgültiger olympischer Abgesang, was damals noch keiner ahnen konnte. Mit dem fünften Platz bei den Spielen 1964 in Tokio hatte das Team bewiesen, dass es mit den Weltbesten mithalten konnte, wie weitere Achtungserfolge bei anderen Gelegenheiten gegen die damals besten Mannschaften aus Indien oder Pakistan zeigten. Doch das Wettrüsten im Spitzensport, das erhebliche finanzielle und materielle Mittel verschlang, forderte seinen Tribut.
Dem sportpolitischen Ziel, bei den Olympischen Sommerspielen 1972 erfolgreicher abzuschneiden als die Bundesrepublik, wurde von der Staatsführung alles untergeordnet. Das wurde schließlich auch erreicht. Im April 1969 legte der sogenannte Leistungssportbeschluss fest, bestimmte olympische Sportarten besonders zu fördern. Bewertet wurde, welcher materielle Aufwand für eine Medaille erforderlich war. Das hatte aber zur Folge, dass einigen personal- und materialintensiven Mannschaftssportarten die leistungssportliche Unterstützung gekürzt oder komplett gekappt wurde. Darunter fielen Basketball, Hockey, Moderner Fünfkampf und Wasserball. In den Genuss außerordentlicher Förderung kamen dagegen die Sommersportarten Boxen, Fechten, Fußball, Handball der Männer, Judo, Kanurennsport, Leichtathletik, die Pferdesport-Disziplinen Dressur und Military, Radsport, Ringen, Rudern, Schießen, Schwimmen, Wasserspringen, Segeln, Turnen und Volleyball.
Von der Hockey-Nationalmannschaft der DDR stammt dieser Kartengruß aus dem Olympischen Dorf ,,Miguel Hidalgo“. Darunter sind die Unterschriften von sieben Spielern, die am fünften Olympia-Platz 1964 in Tokio beteiligt waren: Klaus Bahner, Horst Brennecke, Dieter Ehrlich, Karl-Heinz Freiberger, Lothar Lippert, Rainer Stephan und Axel Thieme.
Turn-Königin und tragische Heldin
Für die Pragerin Vera Caslavska blieben die Olympischen Spiele vor 50 Jahren aus ganz anderen Gründen in besonderer Erinnerung. Der Himmel in Mexiko hing für die 26-jährige voller Geigen. Mit den vier Olympiasiegen im Einzel-Mehrkampf, am Boden – gemeinsam mit Larissa Petrik aus der UdSSR, im Pferdsprung und am Stufenbarren und den beiden Silbermedaillen am Schwebebalken und im Mannschafts-Mehrkampf war die Tschechin nicht nur die überragende Turnerin, sondern auch die erfolgreichste Teilnehmerin der Spiele. Damit steigerte sie noch ihre großartige Bilanz von 1964 in Tokio von drei Olympiasiegen und einmal Silber. Dazu kommt die Mehrkampf-Silbermedaille mit dem Team 1960 in Rom. Keine Frau außer ihr erkämpfte sieben Einzel-Goldmedaillen bei Olympischen Spielen.
Am 25. Oktober 1968 gewann sie gleich drei Goldmedaillen und eine silberne. Tags darauf genoss Vera Caslavska höchstes Liebesglück. In der Kathedrale von Mexiko-Stadt heiratete sie auf Einladung von Mexikos Staatspräsident Gustavo Diaz Ordaz ihren Landsmann Jozef Odlozil, den Olympiazweiten von 1964 im Lauf über 1500 Meter, der in Mexiko-Stadt auf dieser Distanz den achten Platz belegt hatte. Am Zócalo, dem geschichtsträchtigen Platz neben der Kathedrale, drängten sich 100 000 Menschen, um das Paar nach der Zeremonie zu feiern.
Etwas verdrängen konnte die Turnkönigin in diesen glücklichen Stunden die schicksalhaften Ereignisse in ihrem Heimatland, die ihren weiteren Lebensweg beeinflussten. Vier Monate vor den Olympischen Spielen hatte sie im politischen ,,Prager Frühling“ das ,,Manifest der 2000 Worte“ mit unterzeichnet und sich in die Bürgerrechtsbewegung ihres Landes eingereiht. Ende Juni machten jedoch sowjetische Panzer und Truppen des Warschauer Paktes den Reformkurs des kurz darauf abgesetzten Parteivorsitzenden Alexander Dubcek zunichte. Vera Caslavska schenkte ihm nach der Rückkehr aus Mexiko eine ihrer vier Goldmedaillen. 1968 war der Höhepunkt und der Abschluss ihrer Karriere. Sie wurde zur Weltsportlerin gewählt und gemeinsam mit der amerikanischen Präsidenten-Witwe Jaqueline Kennedy zur Frau des Jahres.
Für die ,,blonde Göttin“ begann ein Leidensweg. Ihr Ehemann war schon aus der Armee entlassen worden. Die Olympionikin galt als unerwünschte Person. Berufsverbot und Erniedrigungen musste sie über sich ergehen lassen. Erst zehn Jahre später erfolgte ihre Rehabilitation. Sie durfte mit ihrer Familie nach Mexiko ziehen und arbeitete dort zwei Jahre als Turntrainerin. Die Ehe mit Jozef Odlozil zerbrach und wurde 1987 geschieden.
Nach der politischen Wende in ihrer Heimat ernannte Staatspräsident Vaclav Havel sie zu seiner Beraterin für Sport, Jugend, Schule, Gesundheit und Soziales. Vera Caslavska führte von 1990 bis 1993 das NOK Tschechiens als Präsidentin und wurde 1995 Mitglied des IOC.
Aus der Bahn warf sie 1993 ein schreckliches Ereignis. Sohn Martin schlug in Domasov – dort besaß die Familie ein Sommerhaus – seinen Vater bei einem Streit in einer Diskothek nieder. Jozef Odlozil stürzte unglücklich und starb nach fünf Wochen an den Folgen der schweren Kopfverletzungen. Die Umstände des Vorfalls wurden nie vollends geklärt. Der Sohn erhielt eine Gefängnisstrafe von vier Jahren. Staatspräsident Havel begnadigte den Täter nach drei Jahren. Vera Caslavska zerbrach an der Tragödie und ließ sich zeitweise in eine Psychiatrische Klinik einweisen. 2015 wurde bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Am 30. August 2016 verstarb sie in Prag.
Olympische Grüße aus Mexiko-Stadt von Vera Caslavska nach Prag. Postkarte mit dem Handsonderstempel vom Olympischen Dorf ,,Miguel Hidalgo“ mit Datum 24. Oktober 1968. Sie nutzte die kurze Pause zwischen ihren großen turnerischen Auftritten, um die Karte zu schreiben. Am 23. Oktober gewann Vera Caslavska den Einzel-Mehrkampf, am 25. Oktober triumphierte sie an drei Geräten. Dazu herausgelöst aus der Postkarte die Unterschrift der erfolgreichsten Teilnehmerin der Mexiko-Spiele
Besonders die olympischen Turnauftritte in Mexiko-Stadt haben Vera Caslavska unsterblich gemacht für die Sportwelt. Wo immer über die Geschichte des Kunstturnens berichtet wird, wird der Name der Tschechin nicht fehlen. Sie wurde auch in der Philatelie gewürdigt, wie auf folgender Marke von 1978 aus Nordkorea.
Olympische Sommerspiele
1896 – Athen
1900 – Paris
1904 – St. Louis
1906 – Athen
1908 – London
1912 – Stockholm
1916 – Berlin (ausgefallen)
1920 – Antwerpen
1924 – Paris
1928 – Amsterdam
1932 – Los Angeles
1936 – Berlin
1940 – Tokio, Helsinki (ausgefallen)
1948 – London
1952 – Helsinki
1956 – Melbourne
1960 – Rom
1964 – Tokio
1968 – Mexiko-Stadt
Länder mit Olympia-Briefmarken/Blöcken
1
–
–
1
–
–
–
1
2
3
1
1
–
5
8
20
48
79
94
(Angaben: Katalog der Briefmarken der Olympischen Spiele 1896 – 1996, Yvert & Tellier, Amiens 1998)
Für die junge, 1966 gegründete IMOS eröffnete sich im Aufwind der thematischen Philatelie eine ideale Möglichkeit, die Leidenschaft für das Sammeln zu erwecken und sich mit Gleichgesinnten in Vereinen zusammenzufinden. Dazu trug bei, dass in direkter Nachfolge von Mexiko-Stadt die Olympischen Sommerspiele 1972 in München ihre Schatten vorauswarfen, die auf der 65. IOC-Session in Rom am 26. April 1966 an die Isar-Metropole vergeben worden waren. Die Grundlagen für einen Boom waren gelegt, der aus heutiger Sicht mit schwierigeren Umständen in der Philatelie nostalgische Gefühle hervorrufen könnte. Diejenigen Sammler, die diesen Aufschwung aktiv miterlebten, erinnern sich jedenfalls gern an diese Zeit.
Zu olympischer Hochform lief Lance Wyman auf, ein Mann, der jedoch in keiner Siegerstatistik zu finden ist. Das Briefmarken-Programm für die Sommerspiele 1968 ist untrennbar seinem Namen verbunden. Der Grafiker und Designer aus den USA hinterließ noch weitere Spuren. 1966 hatte der New Yorker entschieden, sich an dem Designwettbewerb für die Grafik der Spiele in Mexiko-Stadt zu beteiligen.
Die Unterschrift von Gestalter Lance Wyman wurde auf diesen Brief mit einem mexikanischen Block aufgedruckt, der am Eröffnungstag der Olympischen Spiele am 12. Oktober 1968 an die Postschalter kam und mit einem Maschinenwerbestempel versehen ist. Die Markenmotive mit den Piktogrammen und dem Symbol der Spiele wurden von Wyman entworfen.
Sein Logo-Entwurf ,,MEXIKO 68“ erhielt das Siegerprädikat zugesprochen und der Künstler verlegte seinen Berufsmittelpunkt für viereinhalb Jahr nach Mexiko.
Der Sieg im Design-Wettbewerb gab der Karriere von Lance Wyman einen entscheidenden Schub und brachte ihm sogar den Ruf eines Rockstars der Grafik ein. Mit den Olympischen Spielen war Wymans kreatives Schaffen im Aztekenland noch nicht beendet. 1970 richtete das Land die Fußball-Weltmeisterschaft aus, bei der viele Symbole die Handschrift von Wyman trugen.
Unter Leitung des bekannten mexikanischen Architekten Pedro Ramirez Vazquez beteiligten sich Lance Wyman und sein Partner Eduardo Tarrazas an der gesamten Design-Kampagne für die Spiele. Vazquez ging zu dieser Zeit bereits ein großer Ruf voraus. Er entwarf auch wichtige Sportanlagen wie das 100 000 Zuschauer fassende Aztekenstadion in der Hauptstadt. Von ihm stammte die Idee für den in den Olympia-Tagen allgegenwärtigen Schriftzug ,,MEXIKO 68“, dessen Design Wyman und seinem Mitstreiter Tarrazas zu verdanken ist. Die Arbeit von Pedro Ramirez Vazquez genoss eine solch hohe Wertschätzung, dass er zum Präsidenten des Organisationskomitees der Spiele der XIX. Olympiade berufen wurde. Die Anregung von Vazquez, Piktogramme von den Sportarten zu entwickeln, wurde ebenfalls von dem Wyman und Tarrazas umgesetzt. Die Piktogramme, die bereits 1966 entstanden, erwiesen sich als ein Volltreffer. Sie sind seither bei Olympischen Spielen nicht mehr wegzudenken und dienen den Olympia-Touristen aus aller Welt als ein sicherer Wegweiser.
Die Teilnehmermedaille von Mexiko 1968 mit den Piktogrammen geht ebenfalls auf einen Entwurf von Lance Wyman zurück. Die Rückseite ist mit der Bezeichnung ,,Spiele der XIX. Olympiade“ in spanischer Sprache versehen. Die Medaille ist aus Kupfer gefertigt. Sie hat die Größe 50 mal 50 Millimeter, ist fünf Millimeter stark und wiegt 116 Gramm.
Es gibt noch eine zweite Teilnehmermedaille, die das runde Motiv des Aztekenkalenders trägt, der auf dem offiziellen Poster der Olympischen Spiele abgebildet ist. Dessen Designer waren, wie konnte es anders sein, Pedro Ramirez Vazquez, Lance Wyman und Eduardo Tarrazas.
Lance Wymans Anteil an den Olympischen Spielen war damit noch nicht beendet. Auf seine Kappe ging zusätzlich noch die Gestaltung der Eintrittskarten mit dem typischen Schriftbild. Der US-Amerikaner hob später immer wieder hervor, dass diese Spiele das schönste berufliche Ereignis seines Lebens waren und sein weiteres Schaffen stark beeinflusst und beflügelt haben.
Mexiko 1968 bot neben großem Sport ein Kulturprogramm mit Teilnehmern aus 97 Ländern, das zehn Monate dauerte. Tanzfeste gehörten dazu, Treffen von Bildhauern und Lyrikern, das Olympische Jugendlager, Sport-Kongresse und Ausstellungen – darunter eine Briefmarkenschau.
Eintrittskarte von den Schwimm-Vorläufen am Vormittag des 22. Oktober in der Halle Alberca Olimpica. Am Abend desselben Tages gewann der Erfurter Roland Matthes die Goldmedaille über 100 Meter Rücken. Drei Tage später siegte er auf der doppelten Distanz. Matthes wiederholte dieses Gold-Doppel 1972 in München. (Illustrationen: Sammlung Rüdiger Fritz)