Geschichten zur olympischen Geschichte

Das Schneevorspiel von Chamonix

Von Rüdiger Fritz

Männer der Tat waren schon immer gefragt. Während sich das IOC noch zierte, vom 25. Januar bis 5. Februar 1924 im französischen Chamonix-Mont-Blanc erstmals Olympische Winterspiele auszurichten und nicht nur - wie geschehen - eine Internationale Wintersport-Woche unter seinem Patronat, wurden in dem Ort am Fuße des mit 4810 Metern höchsten Berges der Alpen klare Fakten geschaffen. Wie von Geisterhand aufgezogen wehte in Chamonix gleich an vier Stellen die von IOC-Präsident Pierre de Coubertin erfundene weiße Olympische Fahne mit den fünf farbigen Ringen, das bis heute wichtigste Olympiasymbol: auf dem Pavillon des Sports direkt neben dem Olympiastadion mit der Eislaufbahn, am Ziel der Bobbahn, an der Sprungschanze und an der Fassade der Villa Valle, in der das Sportkommissariat des Olympischen Komitees Frankreichs sich zeitweise niedergelassen hatte.

Wem dieser Coup zu verdanken ist, lässt sich nicht genau belegen, aber alles deutet auf diese drei Franzosen aus dem Exekutivkomitee der Spiele der VIII. Olympiade 1924 hin: die IOC-Mitglieder Graf Justinien de Clary und Marquis Melchior de Polignac sowie Frantz-Reichel. Insbesondere Frantz-Reichel, der keinen Vornamen gebrauchte und seinen Namen meist mit einem Bindestrich versah, ist der Wink mit dem berühmten Tuch zuzutrauen. Als enger Mitstreiter und Freund von IOC-Präsident Pierre de Coubertin besaß der Generalsekretär des NOK Frankreichs, wortgewandte Sportjournalist, Rugby-Olympiasieger von 1900 und Leichtathletik-Olympiateilnehmer 1896 in Athen weitgehend freie Befugnisse und trat auch entsprechend selbstbewusst auf.



Eine Marken-Zusammendruck aus Guinea von 2001 zeigt IOC-Präsident Pierre de Coubertin
und erinnert an die I. Olympischen Winterspiele 1924 in Chamonix.

Die Geburt der Olympischen Winterspiele vor 90 Jahren verlief zäh. Im Grunde war es ein uneheliches Kind, das im Januar 1924 unter dem Namen Internationale Wintersportwoche zur Welt kam. Baron de Coubertin mit seiner Halbherzigkeit und jahrelangem Widerstand gegen eigenständige weiße Spiele und die Skandinavier mit ihren Bedenken, ihre Wintersportallmacht könnte leiden und besonders die ab 1901 in Schweden abgehaltenen Nordischen Spiele an Bedeutung verlieren, schoben zum Ärger einiger IOC-Mitglieder die Gründung der Winterspiele immer wieder hinaus.

Eine Marken-Zusammendruck aus Guinea von 2001 zeigt IOC-Präsident Pierre de Coubertin
und erinnert an die I. Olympischen Winterspiele 1924 in Chamonix.